Warum steht diese Brücke in Assassin’s Creed Valhalla?

In Assassin’s Creed Valhalla steht eine Brücke, die dort eigentlich nicht stehen darf. Davon war ich überzeugt, als ich sie zum ersten Mal entdeckte. Sie überspannt einen fast ausgetrockneten Bach mitten in der frühmittelalterlichen Open-World-Pampa Englands auf eine derart spektakulär angewinkelte Weise, dass ich mich einfach fragen musste: Wer baut solche Brücken, wo drei nebeneinander gelegte Holzbretter vollkommen ausgereicht hätten?

Ich verarbeitete mein Erstaunen mit einem wahnsinnig humorvollen Tweet und setzte meine Reise durch Assassin’s Creed Valhalla fort.

Aber der Gedanke an diese überambitionierte Konstruktion wollte mich einfach nicht mehr loslassen – und deswegen rief ich ein paar Tage später in Südengland an.

Die Spurensuche beginnt

Bevor ich verrate, wer da am anderen Ende der Telefonleitung saß, muss ich mich erklären. Warum, das fragt ihr euch vielleicht, stört sich Dom ausgerechnet an einer digitalen Brücke in einer riesigen, fiktiven Spielwelt?

Tatsächlich ist das gar nicht so erstaunlich – und das liegt am Markenimage, das sich Assassin’s Creed seit Teil 1 in den letzten 13 Jahren aufgebaut hat. Denn egal, wie sehr man diesem Franchise auch abgeneigt sein mag, eines kann man ihm nicht absprechen: Die beeindruckende Sorgfalt und Detailverliebtheit, mit der Ubisoft historische Schauplätze in ihren fiktiven Welten rekonstruiert. Und das trifft auf jedes ihrer mittlerweile über ein Dutzend Spiele zu.

Assassin’s Creed: Nicht akkurat, aber authentisch. Und das ist auch schon viel wert.

Klar, Zugeständnisse an die Geschichte muss das Entwicklerteam immer wieder machen: Mal fehlen historische Baupläne, um berühmte Gebäude wie die Bibliothek von Alexandria nachzubilden, mal werden ganze Städte kilometerweit von ihren eigentlichen Standorten verschoben, um SpielerInnen mehr Raum zur Erkundung zu bieten. Ganz abgesehen davon ist es ohnehin Quatsch zu erwarten, dass ein Videospiel wie eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit führen kann – dieser Anspruch scheitert neben vielen anderen Gründen bereits am historischen Befund, der nie so lückenlos vorhanden ist, wie es dafür notwendig wäre.

Und trotzdem: Über die Jahre hat dieses Franchise auf beeindruckende Weise gleichermaßen historische Weltwunder wie Alltagskulturen alter Epochen erlebbar gemacht. Die Spielwelten, die wir hier betreten, mögen zwar nicht exakt der historischen Wirklichkeit entsprechen, fühlen sich aber genau danach an. Es riecht nach Geschichte, an allen Ecken und Enden. Daraus ziehen diese Spiele einen wesentlichen Teil ihrer Faszination.

Und davon ist auch Assassin’s Creed Valhalla keine Ausnahme: Die Städte Südenglands sind nicht quellentreu, aber stark an archäologischen Befunden orientiert nachgebildet. Alles, was man hier entdecken kann, „fühlt“ sich historisch an, glaubwürdig. Von den Metropolen bis zu den kleinsten Dörfern. Alles ist stimmig.

Warum?!

Aber dann ist da diese Brücke. Und die passt einfach nicht ins Gesamtbild: Sie bricht mit dem stimmungsvollen, authentischen Charme dieser Spielwelt, indem sie einen Bach auf eine geradezu lächerlich ambitionierte Weise überspannt. So baute im neunten Jahrhundert doch niemand Brücken – oder?

Ein Anruf in Südengland

Zuerst kramte ich in meinen Uni-Ordnern. Aus meinem Archäologie-Studium kannte ich noch eine Brückenform, die dieser hier im Spiel sehr ähnlich war: Die sogenannten „Packhorse Bridges“, also Brücken für Lasttiere, die ähnlich steil gewinkelt und ohne Geländer konstruiert wurden.

Nach einem kurzen Chat mit einer ehemaligen Kommilitonin fiel diese Erklärung allerdings weg: Aus dem neunten Jahrhundert sei ihres Wissens nach keine dieser Brücken belegt. Die tauchen erst rund 200 Jahre später im archäologischen Befund auf. Ganz abgesehen davon, dass bei diesem speziellen Bächlein tatsächlich ein paar Holzbretter genügt hätten, da stellte sie sich die gleiche Frage wie ich mir auch: Warum Stein und Arbeitszeit bemühen, wenn der einfachste und kostensparende Weg auch genügt hätte?

Die Draufsicht erinnert stark an Lasttierbrücken – aber eigentlich passen die chronologisch nicht ins Spiel. Und überhaupt: Wozu der Aufwand, wenn es viel einfacher gegangen wäre?

Diese Frage führt mich zu meinem Telefonanruf zurück. Ganz nach dem Motto „Im Zweifel wird’s schon richtig sein“ nahm ich erst einmal wohlwollend an, dass diese Brücke trotz meiner Zweifel tatsächlich an genau dieser Stelle in Südengland gestanden haben muss, einige Kilometer östlich des heutigen Cambridge.

Um mir das bestätigen zu lassen, telefonierte ich mit der Historical Society der Universitätsstadt und fragte, ob es einen Weg gäbe, Stadtpläne oder Urkunden aus dem neunten Jahrhundert einzusehen, in denen diese Brücke nahe der historischen Ortschaft Earnningstone verzeichnet worden wäre. Die Stille am anderen Ende der Leitung war daraufhin lang, sehr lang.

Schließlich antwortete man mir doch und verwies mich ein wenig ratlos an das Stadtarchiv der Universitätsstadt. Dort versicherte man mir einen weiteren Telefonanruf später, dass es „keinerlei Aufzeichnungen in diesem Zeitraum gebe, die mir bei meiner Suche helfen würden“. Ich hatte es ja schon irgendwie geahnt, aber immerhin hatte ich es versucht.

Der Cursor mittig zeigt die genaue Position der Brücke in Assassin’s Creed Valhalla in der Grafschaft Grantbridgeshire an.

Wenn der historische Befund schon ein Fragezeichen blieb, dann würden mir vielleicht die ArchitektInnen weiterhelfen können, die zumindest für die digitale Brücke in Assassin’s Creed Valhalla verantwortlich waren. Also schrieb ich der deutschen PR-Abteilung von Ubisoft eine Mail und erzählte von meiner Mission, die Daseinsberechtigung dieser Brücke zu ergründen.

Des Rätsels Lösung – und was das bedeutet

Die Antwort folgte zwei Stunden später und begann mit den Worten: „Solch eine Anfrage erhält man nicht oft.“ Trotz ihres Erstaunens (oder wegen? Diese Recherche macht mich völlig wuselig im Kopf) leitete die Ubisoft-Mitarbeiterin meine Anfrage an das Entwicklerteam in Montreal weiter. Einige Tage später meldete sich dann tatsächlich jemand mit des Rätsels Lösung zurück – und zwar Charlene Altamirano, eine Illustratorin und Zeichnerin, die bei der philippinischen Zweigstelle von Ubisoft arbeitet und für die Konzeptentwürfe zahlreicher Bauwerke im Spiel verantwortlich war. Hier ihre Antwort:

„The team did a lot of research and exploration for the environments, including the bridges, you see in Assassin’s Creed Valhalla. We collectively really fell in love with the look of the old Roman stream (or ‘packhorse’) bridges. They are quite unique and small, as they would cross the narrow streams in England.

Personally I looked a lot at how we could work on modeling the Roman stream bridges for the game, their silhouettes as well as the treatments for the walls, railings, arches, and floors. The level artists and designers would then place them in the environments, adding to the overall look and feel of the atmosphere with these fascinating silhouettes.”

Mit anderen Worten: Während ihrer historischen Recherche stieß Charlene Altamirano und ihr Team auf Bilder der „Packhorse Bridges“ und entschloss sich dazu, sie vor allem aus ästhetischen Gründen in ihr Spiel aufzunehmen. Sie fertige dann Entwürfe an, die anschließend die Level-Designer in der Spielwelt platzierten – und zwar dort, wo sie das Gefühl hatten, dass sie schön in die Landschaft passen würden.

Über Geschmack lässt sich sicherlich streiten, aber immerhin hatte ich nun erfahren, wie diese Brücke an diesen Ort gekommen war: Nicht wegen des historischen Befundes, sondern wegen eines Level-Designers, der genau an dieser Stelle in der Spielwelt eine Brücke platzieren wollte. Einfach, weil es schön aussieht.

SO sieht eine Brücke aus: Angemessen groß, angenehme Steigung, einfach toll.

Das Ergebnis meiner Recherche mag zunächst ein wenig ernüchternd klingen, aber sie führte zu zwei für mich wichtigen Erkenntnissen: Zum einen war es sehr, sehr aufregend und toll, mal mit der Historical Society von Cambridge zu telefonieren. Schön.

Zum anderen ist dieses Brückenrätsel ein wunderbar anschauliche Erinnerung daran, dass Spiele – egal wie historisch sie sich auch anfühlen mögen – keine Zeitreisen, sondern eben, na, Spiele sind: Es entscheiden in erster Linie nicht historische Atlanten, was wir bei ihnen zu sehen bekommen, sondern ein Entwicklerteam. Auch bei Assassin’s Creed.

Und diese Erkenntnis ist gar nicht so trivial, wie es zunächst den Anschein haben mag: Gerade in den letzten Jahren argumentierten immer wieder Entwicklerteams und/oder SpielerInnen gegen bestimmte Features in ihren Spielen, weil sie nicht „historisch akkurat“ seien: Ob nun Frauen auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieg oder das Aussparen unangenehmer Themen in Aufbausimulationen – Beispiele gibt es reichlich. 

Das Brückenrätsel von Assassin’s Creed Valhalla erinnert an eine Tatsache, die offensichtlich erscheint, aber hier dann gerne immer mal wieder vergessen wird: Spiele mit historischen Schauplätzen bilden in erster Linie nicht die Geschichte selbst, sondern die Beziehung eines Entwicklerteams zur Geschichte ab. Manchmal geht es da nur um Brücken irgendwo in Südengland, manchmal aber auch um mehr. Und dann ist es wichtig, nicht über Geschichtsbücher zu diskutieren – sondern über die Weltbilder, die sich hinter ihnen zu verstecken versuchen.

Veröffentlicht in