Ich wusste, dass es jetzt ernst werden würde, als mich der kleine Mann in meinem Wohnzimmer ungläubig über seine Brillengläser hinweg anschaute: „Sie haben WIE viele Kartons gekauft?“
Die Frage ging an mich, sonst war ja niemand hier in meiner Wohnung, auch wenn ich mir in diesem Moment moralischen Beistand sehnlichst gewünscht hätte.
„Fünfzehn!“
Er sagte nichts, also wiederholte ich die Zahl wie einen mächtigen Zauberspruch („Füüüünfzeehn!“) und fügte hinzu: „Ich dachte eigentlich, mehr werde ich für den Umzug nicht brauchen? Oder meinen Sie, das reicht nicht?“
Als Antwort erhielt ich ein langes, müdes Lächeln, bevor der Mann vom Umzugsunternehmen seine Brille abnahm, mich eindringlich ansah und murrte: „Geben’se noch mal doppelt so viel drauf. Mindestens. Und dann viel Glück. Werden’se brauchen.“
An genau diese Szene, die sich vor einigen Wochen in meinen Berliner vier Wänden abspielte, musste ich denken, als ich ins Hauptmenü von „Unpacking“ stolperte – das zweite Spiel des australischen Indie-Teams Witch Beam, das mich in pixeligen Wohnungen Umzugskartons auspacken und die Inhalte möglichst sinnvoll einräumen lässt.
Statt eines Umzugsunternehmers, der bereut, meinen Auftrag überhaupt angenommen zu haben, begrüßt mich hier allerdings zuallererst ein rosafarbener Teddybär, der in einem Karton sitzt, als wäre es in Wirklichkeit ein Eukalyptus-Vollbad und mich einladend-grinsend ansieht. Dazu dudelt im Hintergrund ein idyllischer Chiptune-Soundtrack, der sich wie eine warme Decke um meine Schultern legt und mir so jede Angst nehmen will, die sich bei mir unweigerlich beim Anblick des Pixel-Umzugkartons einstellt.

Denn mein echter Umzug war Stress pur: Nach Wochen des gemächlichen Drei-Gegenstände-in-einen-Karton-legen-und-das-reicht-auch-erstmal-für-heute-Einpackens bemerkte ich kurz vor dem Tag des Umzugs, dass ich, oh Wunder, viel zu spät mit allem dran war. Der LKW stand quasi schon in der Auffahrt und ich musste noch eineinhalb Zimmer in Kartons verstauen. Dramatische Zeitdruckmomente wie diese und die Frage, was ich aussortiere, was ich mitnehme und was einfach nur aus Unentschlossenheit wieder in den Kartons landet, klammert „Unpacking“ in seiner Umzugsfantasie allerdings aus.
Hier geht es einzig und allein um das Einräumen von mitgebrachten Gegenständen in den unterschiedlichsten Wohnungen, die die Protagonistin im Laufe ihres Lebens bezieht, mal als Kind, mal als Single, mal in einer WG, schließlich als Beziehungspartnerin. Und all das ist wundervoll entspannend: Ich bewege beim Ausräumen keinen verschwitzten Avatar durch die Räume, der ungeschickt über Verpackungsmaterial und Kartons klettern muss, sondern klicke mich elegant durch das neue Zuhause, das sich in hübschen, übersichtlichen Dioramen vor der Kamera räkelt.
Die zurückbleibenden, leeren Kartons muss ich anschließend nicht etwa nachts heimlich in bereits überfüllte Altpapiertonnen pressen, sondern verschwinden elegant auf einen Mausklick hin. In der echten Welt sind Umzüge wahnsinnig disruptiv. Hier sind sie gute Unterhaltung. Was bin ich froh. Eskapismus in Reinform, für derart unrealistische Heilfantasien wurden Videospiele erdacht.
Zurück in die echte Welt: Um 10 Jahre gealtert und heiser vom lautlosen Schreien, mit dem ich meine panischen letzten Handgriffe begleitete, saß ich nun also in meiner neuen Wohnung, umgeben von leeren Regalen und vollen Kartons, ganz so wie die Protagonistin in „Unpacking“. Und hier klaffen die Dimensionen von Spiel und Wirklichkeit nun erstmals auf eine so spektakuläre Weise auseinander, dass es mir nach anfänglicher Begeisterung (Räume wechseln per Mausklick, ich kann es nicht oft genug loben) schwer fällt, der eigentlich so wohltuend-entspannenden Fantasie von „Unpacking“ noch zu folgen.
Denn: Auch vier Wochen nach meinem Umzug stehen hier noch Umzugskartons. Ein Badschrank schlägt Wurzeln im Gang, im riesigen Schlafzimmer vegetieren unaufgebaute Bücherregale traurig vor sich hin, zusammengerollte Teppiche und alte Konsolen teilen sich Stauraum unter meinem Bett. Und das ist normal! Natürlich gibt es diese wahnsinnig beeindruckenden Menschen, die in den ersten drei Tagen nach dem Umzug komplett fertig eingerichtet sind, aber, das behaupte ich, die meisten von uns schleppen noch wochenlang Umzugskartons durch die Welt, bauen alte Regale neu zusammen oder bringen den letzten Kram endlich in den Keller. Diese Realität, die zumindest für mich fester Teil eines jeden Umzugs ist, bildet „Unpacking“ nicht ab. Stattdessen zwängt es mir plötzlich gamifizierte Spielregeln auf, die ich so weder erwartet noch mir von einem Umzugsspiel gewünscht hätte.
So darf ich erst zur nächsten Wohnung und damit zum nächsten Kapitel im Leben meiner Protagonistin voranschreiten, wenn alle Gegenstände auch wirklich an den „richtigen“ Orten verstaut sind. Was das Spiel hier für „richtig“ hält ist für mich dabei mal mehr, mal weniger nachvollziehbar. Klar, den Laptop lagere ich besser nicht dauerhaft in der Badewanne und das Insektenspray legen nur wenige Menschen mit Absicht in die Besteckschublade. Aber warum darf ich den alten Toaster nicht auf die oberste Schrankzeile verbannen, ein paar Romane auch auf dem Küchentisch verteilen und den ausgetretenen Teppich unter das Bett statt in den Wandschrank schmeißen? Ich weiß nicht. Einrichtungstechnisch ergibt das sicherlich in der Welt des guten Geschmacks viel Sinn. Aber das ist nicht meine Welt.

Immerhin: Es gibt eine Antwort auf diese Fragen, auch wenn sie mir nicht allzu gut gefällt. „Unpacking“ ist eigentlich kein Umzugssimulator, wie er hier und da beschrieben wird, sondern ein lineares Story-Game. Und es ist nicht meine Story, oder irgendeine, sondern die einer Frau, deren Entscheidungen, Herausforderungen, Höhe- und Tiefpunkte wir in ihren Umzugskartons wiederfinden.Und mit diesem Wissen im Hinterkopf wirkt „Unpacking“ auf einmal wesentlich eleganter, einfallsreicher und kreativer.
Im Kinderzimmer – dem Tutorial – platziert sie ihre Spielsachen noch ganz so, wie sie mag, es gibt kaum richtig oder falsch. Ihr erstes eigenes Zimmer wird zum stolzen Ausstellungsraum ihrer ersten eigenen Besitztümer, vom PC bis zur Buchsammlung. Als sie dann in eine WG und bald darauf mit ihrem Partner zusammenzieht, wird der Platz plötzlich knapper. Ablageflächen sind bereits besetzt, die dort verstauten Gegenstände dürfen nicht einfach umgestellt werden. Eigentlich wichtige Andenken müssen in die zweite Regalreihe wandern.
So erzählt „Unpacking“ zwischen den Zeilen von Triumphen, Konflikten und sogar familiären Dramen, ohne nur ein einziges Mal ein Wort zu sprechen. Was als gemütliches Platzierspiel beginnt, entwickelte sich bald zu einem Detektivspiel, in dem ich nicht einem Mord, sondern einer Lebensgeschichchte nachspüre. Das ist eine Leistung, die mich schlussendlich fast noch mehr beeindruckt hat als die Umzugskartons, die sich von selbst zusammenklappen und einfach so in der Luft verschwinden.