Im „Kaff der Spielebranche“ arbeitet Simona Maiorano an einem besonderen Spaziergang

Dieses Porträt ist Teil der Reihe „AMAZING PEOPLE“: eine Zusammenarbeit von OK COOL und dem Spielkulturfestival A MAZE, die uns und euch jeden Monat spannende EntwicklerInnen aus der ganzen Welt vorstellt.

„Es ist schwer da draußen überhaupt bemerkt zu werden, wenn man ein Spiel entwickelt, das nicht irgendwelchen Trends folgt.“ Mit diesen Worten eröffnet Simona Maiorano im November 2019 ihren Vortrag auf dem Spielefestival „Game Happens“ in Genua – und fast die gleichen Worte wählt die italienische Entwicklerin noch einmal, als sie rund zwei Jahre später das Interview mit mir beginnt. 

Simona Maiorano auf dem A MAZE-Festival 2019 in Berlin.

Sea of Leaves heißt das Spiel, an das Simona denkt, wenn sie über ihre Angst spricht, nicht gesehen zu werden: Ein Walking Simulator, der die Geschichte einer mysteriösen Heimkehrerin erzählt – „ohne Highscores, ohne Quests und Helden, ohne Action und ohne Pistolen, Gewehre oder Schwerter“, wie sie selbst zusammenfasst. Stattdessen zieht die Welt von Sea of Leaves ihre Faszination aus dem Ordinären, Alltäglichen: „Man rettet nicht die Welt, sondern spielt als eine ganz normale Frau, die von Zuhause floh und nach vielen Jahren wieder in ihre alte Heimat zurückkehrt. Aber irgendetwas stimmt nicht, fühlt sich anders an – und woher dieses Gefühl kommt, darum geht es in Sea of Leaves.“ 

Das lange Warten auf die Chance

Simona Maiorano ist ihr Spiel wichtig, sehr sogar. Nicht nur, weil sie seit rund vier Jahren jede freie Zeit in die Entwicklung steckt, sondern auch, weil Sea of Leaves einen Moment in Simonas Leben einfängt, den die Entwicklerin nicht vergessen will. 

Alles beginnt in Vieste, eine Kleinstadt im Süden Italiens. Hier wächst Simona auf. Ein energiegeladenes, neugieriges Kind, das sich für vieles begeistern kann: Bücher, Kunst, Bilder, die Natur. Als sie schließlich Videospiele für sich entdeckt, öffnet sich ihr eine neue Welt, die all ihre bisherigen Erfahrungen übertrifft: „Ich hatte das Gefühl, ich konnte alles und jeder sein. Und je mehr ich spielte, desto klarer wurde mir: Ich will meine eigenen Spiele entwickeln – nicht nur, um neue Geschichten zu erzählen, sondern um mir selbst eine Stimme zu geben und mich auszudrücken, wie es auch Künstler oder Autoren tun.“

Aber der Traum von der Karriere als Spieleentwicklerin zerschellte an der harten Realität: Im ländlich geprägten Süditalien hatte die Tech-Branche Anfang der 2000-er noch lange nicht Fuß gefasst. Es gab für Simona schlichtweg keine Anlaufstation, um ein Praktikum oder eine Ausbildung beginnen zu können Und für ein Studium im Ausland fehlte ihr das Geld. Notgedrungen machte sie das Beste aus ihrer Lage: „Ich begann als freie Autorin für Videospielzeitschriften zu schreiben, während ich parallel versuchte, mir selbst irgendwie Game Design beizubringen.“

Viele Jahre später, im Herbst 2012, bekam Simona dann endlich die ersehnte Chance: Das neu gegründete Entwicklerstudio Dreamslair ließ sich in Bari nieder und veröffentlichte einige Stellenausschreibungen. Die freischaffende Autorin zögerte keine Sekunde, bewarb sich – und wurde kurz darauf als Community Manager und QA-Testerin eingestellt. Sie sammelte Erfahrung, lernte viel dazu. Und als Dreamslair 2014 wieder schließen musste, begann Simona, ihre eigenen Spiele zu entwickeln.

„Die italienische Spielebranche ist im internationalen Vergleich ein Kaff.“

Simona Maiorano schaffte den Sprung in die Spielebranche dank ihres Talents und der Game-Design-Fähigkeiten, die sie sich neben ihrer Arbeit als Autorin angeeignet hatte. Aber sie hatte auch Glück. Und Glück scheint dringend notwendig, wenn man in Italien geboren wurde und beruflich irgendwas mit Spielen machen möchte. 

An ihrem Schreibtisch arbeitet Simona täglich bis in die Abendstunden hinein an Sea of Leaves.

Die Gründe dafür sind zahlreich, wie mir Simona erklärt: „Da ist schon mal grundlegend das Problem, dass sich die italienische Wirtschaft traditionell vor allem auf Tourismus und Nahrungsmittel stützt. Außerdem ist hierzulande noch immer das Klischee weiterverbreitet, dass Spiele dumm oder sogar gefährlich sind. Deswegen ist es auch schwer, Investoren außerhalb der Branche zu finden – außer natürlich, man macht eine App für ein Museum oder sowas.“

Es gibt also kaum finanzielle Ressourcen, attraktive Arbeitsplätze – und die wenigen NachwuchsentwicklerInnen sind umkämpft. Das führt laut Simona zu einer traurigen Konsequenz: Die italienische Spielebranche ist im ständigen Wettbewerbsmodus mit sich selbst, Neid und Missgunst stehen über gemeinschaftlichen Austausch und gegenseitiger, kreativen Befruchtung. Wer wie Simona im strukturell noch immer schwächeren Süden Italiens lebt, bekommt diese Probleme sogar noch viel stärker zu spüren. Denn die drei, vier größten und einflussreichsten Studios des Landes liegen allesamt im wirtschaftlich stärkeren Norden.

Diese vielen Probleme und Defizite bemerkte Simona bereits während ihrer ersten Schritte in der Spielebranche. Aber erst, als sie 2016 einige Wochen lang im englischen Brighton lebte und sich dort mit  EntwicklerInnen austauschen konnte, wurde ihr wirklich deutlich, wie schlecht die Arbeitsverhältnisse in Süditalien wirklich waren. 

Simona engagiert sich dafür, den Stand ihrer Heimatbranche zu stärken. Hier spricht sie auf der „Game Happens“-Konferenz in Genua über ihr Spiel und die Arbeitsbedingungen in Süditalien.

Diese Erfahrungen inspirierte sie: Nicht nur zur Gründung einer „Game Dev Community“ in Bari, sondern auch zur Entwicklung ihres Spiels Sea of Leaves, das eine ganz besondere Geschichte einer ganz besonderen Heimkehrerin erzählt.

Eine Geschichte, die entdeckt werden will

Sea of Leaves rahmt die Reise einer jungen Frau, die nach Jahren in der Fremde wieder an vertraute Orte ihrer Kindheit zurückkehrt, mit einem langen Spaziergang. Dieser Spaziergang führt durch einige der schönsten Ecken Apuliens, Simonas Heimat. 

Die Geschichte der Protagonistin wird allerdings nicht einfach so erzählt, sondern muss von den SpielerInnen wortwörtlich entdeckt werden: Überall entlang unseres Spaziergangs sind mal mehr, mal weniger auffällig Interaktionspunkte verborgen, die Erinnerungen, Gedanken und Selbstgespräche freischalten. Die Linearität wird von einem Zufallsfaktor durchbrochen, der je nach Reihenfolge der Entdeckungen entscheidet, wie die Geschichte letztendlich ausgehen wird. Keine Action, keine Schießereien, keine Weltrettung. Einfach nur ein Spaziergang, der unsere Aufmerksamkeit mit einer berührenden Geschichte belohnt. Simona hält Wort.

Sea of Leaves ist nicht fotorealistisch, sondern verträumt – und das passt zur Spielidee.

„Sea of Leaves hat eigentlich als Experiment über zufallsgenerierte Geschichten begonnen. Ich wollte meine Fähigkeiten als Autorin ausloten und den Menschen da draußen einen Grund bieten, mein Spiel mehrfach zu spielen und dabei immer wieder etwas neues zu entdecken.“

Aber auch das Gefühl des Tagträumens, der sich gerne beim Spaziergang einstellt, wollte Simona mit ihrem Spiel einfangen: „Die Geschichte wird durch die Beobachtungen erzählt, die die Protagonistin in ihrer Umwelt wahrnimmt. Sie ist dabei ganz ungestört, wird nicht geleitet oder geführt, sondern gibt allem, was sie sieht, ganz eigenständig einen Sinn.“ Ein Spiel also, das seine Geschichte im Tempo der SpielerInnen erzählt. Kein Questmarker, kein Zeitlimit, kein Endboss, nur unsere Neugier, die uns immer noch einen Schritt weitergehen lässt.

Seit vier Jahren arbeitet Simona Maiorano nun schon an Sea of Leaves, durchschnittlich zwei bis vier Stunden, jeden Tag, ausschließlich in ihrer Freizeit. Denn ihr Geld verdient sie als QA-Testern bei einem italienischen Mobila-Game-Studio. Viel zu tun, wenig Ausgleich, aber Simona hatte bisher weder Probleme mit Crunch noch Burnout-Symptomen: „Selbst wenn ich weiß, dass ich jetzt eigentlich an meinem Projekt weiterarbeiten sollte, gönne ich mir erst einmal Ruhe, koche, mache Sport, chatte mit Freunden. Denn es ist trotz aller Leidenschaft so wichtig, sich nicht Hals über Kopf in die eigene Arbeit zu verlieben. Sonst hat man am Ende auch nicht mehr den Blick für’s Wesentliche und übersieht Schwächen oder Probleme.“

Im Herbst 2021 soll Sea of Leaves erscheinen – und dann „hoffentlich nicht untergehen“, wie Simona beschwört.

Ihr Tagesjob als QA-Testerin raubt zwar Zeit, die in die Entwicklung von Sea of Leaves fließen könnte, schenkt Simona aber auch finanzielle Sicherheit und damit die beruhigende Gewissheit, dass ihr Spiel kein kommerzieller Hit werden muss.

Trotzdem: Ihre Angst ist groß, dass Sea of Leaves wie so viele andere Indie-Spiele schlichtweg übersehen wird, sobald es Ende 2021 erscheint. Besonders auch weil sie glaubt, dass ihr Spaziergangspiel den Menschen ein paar besondere Momente schenken kann. Das hat sie bereits gespürt, als sie Sea of Leaves 2019 auf dem Amaze Festival in Berlin ausstellen durfte, viel gutes Feedback erhielt und sogar für die „Humble New Talent“-Auszeichnung des Festivals nominiert wurde. Ihr Spiel steht in der internationalen Indie-Community bereits auf dem Wunschzettel vieler EntwicklerInnen.

Sea of Leaves auf der A MAZE 2019.

Sea of Leaves mag zwar nicht den großen Trends folgne und auf tobende Action, dickes Waffenarsenal oder Heldengeschichten verzichten, dürfte aber trotzdem den Nerv vieler Menschen treffen, die gerade in den letzten Monaten kaum mehr als ihre eigenen vier Wände sahen. Für sie könnte Sea of Leaves das Fenster in eine Welt werden, die nicht nur wunderschöne Panoramen, sondern auch eine Geschichte bereithält, die es wirklich wert ist, erzählt – und gehört – zu werden.

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