Wie eine 16-jährige Entwicklerin weltweit Spielefans zusammenbringt

Melissa Ran ist gerade einmal 16 Jahre alt, aber hat bereits mit hunderten Menschen gemeinsam Spiele entwickelt. Ihr aktuelles Projekt, eine Art spielbares Dating-Diorama, bringt seit knapp drei Wochen über 200 Coder, IllustratorInnen und AutorInnen aus der ganzen Welt zusammen – und ständig kommen mehr dazu.

Über Tumblr bewirbt Melissa das „Community Game Project“, wie sie es nennt, bei ihren rund 2.100 Followern. Dort dokumentiert sie Meilensteine der Entwicklung mit farbenfrohen Gifs und lädt Interessierte auf ihren Discord-Server ein. In diesen Chaträumen treffen sich täglich die begeisterten Freiwilligen, beraten über neue Features, tüfteln an originellen Dialogzeilen und helfen sich mit Grafik-Assets aus. Melissa ist hier fast ununterbrochen online.

„Am besten gefällt mir an diesem Projekt, dass ich Menschen eine Plattform geben kann, auf der sie sich künstlerisch ausdrücken können, die sie antreibt und ihnen nicht zuletzt die Möglichkeit schenkt, an einem echten Videospiel mitzuwirken. Aber es ist nicht nur das: Ich liebe es, in Echtzeit beobachten zu können, wie all diese Menschen ihren Enthusiasmus miteinander teilen und einfach glücklich sind.“

So beschreibt Melissa im Interview mit OK COOL ihre Motivation, die wenige Freizeit, die der 16-Jährigen Highschool-Schülerin täglich bleibt, in das „Community Game Project“ zu stecken.

Die Idee für ihr Spiel-Projekt, das einfach nur Coffeeshop heißt, ist simpel: In einem gemütlichen Café gehen dutzende BesucherInnen ein und aus, kaufen Kaffee oder machen es sich auf Sofas oder Ohrensesseln gemütlich. Begegnen sich zwei oder mehr dieser BesucherInnen, unterhalten sie sich miteinander. Dabei kann jeder Charakter auf dutzende Dialogzeilen zurückgreifen, die zu den Aussagen des Gegenübers passen. Der Spielende kann dabei nicht viel mehr tun, als das Aufeinandertreffen zu beobachten, Kaffee zu machen und an die Kunden zu verteilen oder Charaktere durch das Café zu zerren, um sie mit neuen GesprächspartnerInnen zu konfrontieren.

Coffeeshop ist ein spielbares Dating-Diorama (Bild: Melissa Ran)

Geraten zwei virtuelle KI-Menschen aneinander, die sich besonders gut ergänzen, verlieben sie sich ineinander – das zumindest ist die Theorie. In der Praxis sieht Coffeeshop noch ein wenig anders aus: Figuren bleiben hin und wieder an Buchregalen hängen, verharren minutenlang regungs- und sprachlos oder werfen sich völlig unsinnige Wortfetzen an den Kopf. Ein fehlerfreies Spiel zu entwickeln, ist für Melissa und ihre hunderten MithelferInnen allerdings nur zweitrangig. Für sie geht es um den Spaß, gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten, das fast alle Visionen und Ideen willkommen heißt.

Und dafür hält sie die Einstiegshürden so niedrig wie möglich, um auch Menschen zur Beteiligung zu ermutigen, die weder mit Programmierung noch Grafikdesign vertraut sind: „Ich habe eine Datenbank aufgebaut, die man mit kompletten Szenen zwischen unterschiedlichen Charakteren, die sich jemand ausgedacht hat, füttern kann. Diese Szenen werden dann in die Spielwelt übertragen, die Dialoge zwischen unterschiedlichen Spielfiguren aufgeteilt – und je nach Inhalt reagieren die außerdem auch mit passenden Emotionen!“ Wer mitmachen will, kann auch mitmachen. Das ist die Devise der 16-Jährigen.

Coffeeshop ist bereits Melissas zweites „Community Game Project“. Davor arbeitete sie gemeinsam mit fast 200 anderen EntwicklerInnen an Plus Adventure, einem farbenfrohen Dungeoncrawler, der im Universum des populären Animes My Hero Academia spielt.

Von diesem ersten Projekt lernte die 16-Jährige viel: „Das war so hilfreich für mich, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich habe gelernt, Menschen zu führen, auf ihre Gefühle einzugehen, Streitereien zu schicken. Ich habe gelernt, vor Menschen zu sprechen und zu vermitteln. Alleine schon deswegen war das für mich eine extrem wertvolle Erfahrung.“

Plus Adventurewuchs schnell, fast erschreckend schnell, wie sich Melissa erinnert: Täglich stießen neue MithelferInnen zum Projekt hinzu und auf Tumblr bildete sich innerhalb weniger Tage eine Community von tausenden Fans, die fleißig aktuellste Spielversionen ausprobierten und Anregungen für neue Features lieferten.

Doch trotz dieses Erfolgs entschloss sich Melissa nach einigen Wochen, das Projekt zu stoppen – eine Entscheidung, die ihr nicht leicht fiel: „Ich habe immer wieder kleinere Fehler gemacht und schließlich die Inspiration verloren. Das war wirklich schwer, auch für all die anderen MithelferInnen: Immerhin hatten auch sie unzählige Stunden in dieses Projekt gesteckt. Aber ich habe von dieser Erfahrung gelernt, Verluste nicht zu fürchten. Verluste können überwunden werden. Neue Möglichkeiten und Chancen gibt es hingegen endlos viele.“

Während Melissa schon immer eine Leidenschaft für Videospiele wie The Legend of Zelda oder Die Sims hatte, wollte sie nie selbst Spiele entwickeln. Erst über Umwege entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Programmieren: „Ich habe in der 10. Klasse angefangen, Spiele zu programmieren, weil ich wirklich schlecht in Mathe war und hoffte, dass mir diese Übungen helfen würden“, erklärt sie im Gespräch im OK COOL.

Bald entstehen aus den ersten Programmierversuchen eigenständige Spiele: Anytown generiert auf Knopfdruck surreale Großstädte, die Spielende durchwandern und erkunden können. Sanctuary at Sea ist ein frei erkennbarer Zufallsgenerator, der verträumte Wohnsiedlungen irgendwo auf dem Ozean erschafft. Metroprovement macht Spielende zum Stadtverwalter, der versuchen muss, eine möglichst stressfreie, umweltbewusste und nachhaltige Lebenswelt für die Stadtbewohner zu schaffen.

Sanctuary at Sea generiert auf Knopfdruck verträume Wohnsiedlungen (Bild: Melissa Ran)

Die Stadt und ihre Menschen sind der thematische rote Faden, der die ersten Spiele von Melissa verbindet – und das ist kein Zufall, wie sie erklärt: „Ich lebe in einer ziemlich öden Nachbarschaft in New Jersey und meine Spiele sind sowas wie ein Fluchtweg für mich. Mich fasziniert sehr, wie Menschen ihre Lebensräume gestalten und ich male mir regelmäßig aus, wie toll es wäre, wenn zum Beispiel der Verkehr fliegen und die Straßen einzig und allein für Fußgänger, Pflanzen und Tiere frei stünden. Ich zeichne auch viel, häufig fliegende Städte oder anderen, seltsamen Kram.“

Dass ihre Spiele außerdem einen so großen Wert auf Zufallsgeneratoren legen, hat hingegen weniger mit einer künstlerischen Vision zu tun, wie Melissa weiter erklärt: „Ich bin eine faule Künstlerin. Ich will möglichst viel Kunst in so kurzer Zeit wie nur irgendwie möglich schaffen, also arbeite ich viel mit Zufallsgenerierung, die mit meiner Vision und meinem Code ganz neue Dinge fabrizieren.“

Während Spieleentwicklung für Melissa noch vor einigen Monaten nicht mehr als Mathe-Nachhilfe war, zählen die virtuellen Projekte heute zu ihren größten Leidenschaften. Mittlerweile hat auch ihr 12-jährige Bruder den Geschmack an dieser Welt gefunden: „Er versucht, in meinen Fußstapfen zu folgen und ich versuche wiederum ihm dabei zu helfen, so gut ich nur kann. Ich bin wirklich froh, dass wir uns haben.“

Melissa will später am College „Interactive Media“ studieren und noch mehr Community Games wie Coffeeshop und Adventure Plus entwickeln. Ob sie dieser Weg schließlich wirklich in die Spielebranche führen wird, weiß die 16-Jährige noch nicht sicher. Im Interview mit OK COOL betont sie, dass es nur eine Sache gibt, die sie schon heute mit Gewissheit über ihre Zukunft sagen kann: „Keines meiner Projekte war bisher fehlerfrei oder perfekt und manchmal habe ich das Gefühl, dass ich immer noch keine Ahnung habe, was ich da eigentlich mache. Das wird sich nie ändern: Ich werde immer wieder Fehler machen, bis zu dem Tag, an dem ich sterbe. Und für mich klingt das nach einem extrem guten Leben.“

Veröffentlicht in