Auf den Spuren des bizarrsten Ingame-Gags von Mechabellum: Wer ist Jürgen?

Es genügt ein einziges Wort, um eine Lawine loszutreten – kein Schimpfwort, keine Beleidigung, sondern lediglich ein Vorname: Jürgen.

Wer dieses Wort in den Global Chat des Steam-Hits Mechabellum schreibt, erhält innerhalb von Sekunden dutzende Reaktionen: „JÜÜÜRGEN!“, „Jürgen regelt“, „Was geht, Jürgen?“, „Na Moin, Jürgen!“ und so weiter. Plötzlich und spontan entstehen Nonsense-Gespräche, die sich minutenlang durch den Chat ziehen können. Andere User steigen dann mit einem „Jürgen!!!!“ ein und nur ab und zu fragt jemand: „Was hat es überhaupt mit diesem Jürgen auf sich?“ Normalerweise gibt es darauf keine Antwort. Die Jürgen-Fans geben keine Erklärung ab, sondern setzen ungestört ihr bizarres Gespräch fort.

Dieses Phänomen tritt innerhalb der deutschen Mechabellum-Community täglich auf. Und wenn gerade einmal tatsächlich niemand über Jürgen schreibt, genügt es bereits, selbst einfach nur diesen Vornamen zu nennen, um eine neue Lawine loszutreten. So sieht das dann aus, nachdem ich (Domimon) den Jürgen wortwörtlich ins Spiel bringe:

Was hat es mit diesem „Jürgen“ auf sich? Wie entstand dieses Phänomen, das mittlerweile einem Running Gag gleicht? Und: Wer ist eigentlich dieser „Jürgen“? Gibt es ihn wirklich?

Beginn einer seltsamen Spurensuche

Meine Recherche beginnt direkt im Ingame-Chat des Spiels. Ich frage User, die sich mal wieder mit Jürgen-Gags bewerfen, nach dem Ursprung des Memes. Niemand will mir antworten und nachdem ich noch einmal freundlich nachhake, meint nur ein Spieler, ich solle „seinen Jürgen lutschen.“

Hier komme ich erst einmal nicht weiter.

Also erweitere ich meinen Recherche-Kreis und durchsuche Reddit, die Steam-Foren des Spiels und soziale Netzwerken nach Spuren, die mich zu „Jürgen“ und dem Ursprung dieses viralen Gags führen können. Und tatsächlich werde ich fündig: Ich stolpere über dutzende Beiträge, die das Vornamen-Meme aus dem Ingame-Chat in die unterschiedlichsten Foren hinaustragen: Beiträge mit Titeln wie „#FreeJürgen“ und „Jürgen, bist du da draußen“, die teils seitenlange Diskussionen zwischen irritierten Usern und eingeweihten SpielerInnen heraufbeschwören. Es scheint fast so, als wäre es den „Jürgen“-Jüngern ausgesprochen wichtig, ihren Gag nicht zu erklären und die Deutungshoheit über ihren Scherz zu behalten.

Die Psychologin Jolina Bering überrascht dieses Verhalten nicht. Ihr erzähle ich von meiner Recherche, dem „Jürgen“-Gag – und wie hartnäckig sich SpielerInnen weigern, die Ursprünge des Witzes zu erklären. „Mechabellum und die Community darum ist ja noch sehr jung, das heißt da formt sich gerade eine Identität als Fan-Gemeinschaft. ‚Jürgen‘ begann vermutlich als ein kleiner Situations-Gag, der dann zu eine Art Auszeichnung oder Erkennungsmerkmal für besondere Fans des Spiels und der Community wurde.“

Bering, die sich selbst als Gaming-Psychologin viel mit der Spielkultur auseinandersetzt, deutet dieses Verhalten als Wunsch nach Bildung einer sozialen Identität: „Studien haben gezeigt, dass für die Ausbildung einer sozialen Identität teilweise vollkommen zufällige Merkmale ausreichend sind, wie ‚Team Blau‘ oder ‚Team Rot‘ oder in diesem Falle ‚Jürgen‘ oder eben nicht ‚Jürgen‘. Durch die Teilnahme an einer Gruppe ergänzen wir unsere eigene Identität und bedienen unser Grundbedürfnis nach Bindung. Das führt ganz automatisch dazu, dass wir eine höhere Meinung von den Gruppenmitgliedern haben und eine etwas niedrigere von Personen, die nicht Teil der Gruppe sind.“

Dieses Gefälle werde laut der Psychologin im Falle der „Jürgen“-Community nochmal dadurch erhöht, dass die Verwendung der Referenz eine Art Exklusivität auszeichnet. Es werde eine exklusive Community in der Community aufgezogen um sich von den „gewöhnlichen“ Mechabellum-Fans abzugrenzen. „Das wiederum bedient unser Bedürfnis nach Anerkennung und Selbstwerterhöhung und ist ein sehr alltägliches Phänomen in nahezu allen Fan-Communitys, sei es K-Pop, Anime, Gaming oder beim Handwerkeln und Grillen.“

„Besonders wird es in diesem Fall dadurch, dass durch die Unterdrückung des Informationsflusses („Gatekeeping“) versucht wird die Exklusivität des Expertentums zu bewahren. Dies verstärkt das Gefühl etwas besonderes zu sein, aber auch Teil einer speziellen erlesenen Gruppe der Wissenden zu sein, was zusätzlich zum Selbstwertbedürfnis auch unser Bindungsbedürfnis anspricht. Dementsprechend ist es auch reizvoll für Außenstehende Teil der Gruppe zu werden, weil sie durch die Teilnahme an dieser Art sozialen Vertrag einen höheren Status und eine Gruppenmitgliedschaft bekommen.“

Ironischerweise, so schließt die Psychologin, könne der „Jürgen“-Gag auch verwendet werden, ohne überhaupt zu wissen, worum es eigentlich geht – und damit ein Teil der Subgruppe werden. „Vermutlich wird dieser Anteil über die Zeit hinweg sogar den größeren Teil der Community ausmachen, als diejenigen, die noch wissen, was damit gemeint war.“

Der „echte“ Jürgen

Schließlich habe ich tatsächlich Glück und stoße nach vielen durchwühlten Forenseiten endlich auf ein Steam-Profil, das vielversprechend aussieht: „Jürgen“ heißt es einfach nur. Das Profilbild zeigt einen blonden Mann mit Schnäuzer, schwarz gekleidet und mit stechendem Blick. Ist er das? Der echte Jürgen?

Im Steam-Profil von „Jürgen“ entdecke ich einen Link zu einem YouTube-Kanal, bei dem eine Mail-Adresse hinterlegt ist. Also schreibe ich ihm – und füttere parallel die Google-Bildersuche mit dem Profilbild des blonden Mannes. Und tatsächlich: Die Suchmaschine führt mich zur digitalen Karteikarte des Schauspielers Jürgen Rißmann, 59 Jahre alt, wohnhaft in Koblenz und zuletzt gesehen im WDR-Spielfilm „Für irgendwas wird es schon gut sein“. 

Spielt also Jürgen Rißmann zwischen seinen Dreharbeiten wie verrückt Mechabellum? 

Ich schreibe seiner Agentur und erhalte kurz darauf Antwort. „Weder wir noch Jürgen Rißmann wissen, wovon Sie sprechen“ antwortet mir die Agentin des Schauspielers kurz darauf sinngemäß. Eine Sackgasse also – doch wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich ein Fenster: Ich bekomme eine weitere Mail, dieses Mal von der Person, der das Steam-Profil von „Jürgen“ gehört. Er oder sie willigt einem Interview ein.

Einen Tag später sehe ich den „echten“ Jürgen endlich vor mir.

„Jürgen“ heißt in Wahrheit Lasse, ist 22 Jahre alt und blick mir ein wenig nervös und aufgeregt aus seinem Jugendzimmer entgegen. Ich darf ihn ausfragen und erfahre, dass Lasse drei Semester lang Umwelttechnik und Ressourcenmanagement studiert hat, bevor er sein Studium abbrach und stattdessen ein Praktikum in einer Hundepension begann. Dort machte er schlechte Erfahrungen mit seinem Arbeitgeber, schmiss erneut das Handtuch, kämpfte sich durch die Isolation der Corona-Pandemie. Dann die Wende: Ende 2022 ergatterte er einen neuen Job, der tatsächlich seine Erwartungen und Hoffnungen erfüllten konnte: Zootierpfleger. 

Lasse ist ein sympathischer Kerl, der mir erzählt, dass Gaming neben seinen Freunden sein wichtigstes Hobby sei. Fast täglich ist er online und via Discord in ständiger Verbindung mit seinem Freundeskreis. Mechabellum ist eines der Spiele, in denen er zuletzt die meiste Zeit abhing – und das ihn zum Urheber des viralen Gags machte.

Ironischerweise allerdings versehentlich.

Geburt eines viralen Gags

Lasse erklärt mir den Ursprung des Running Gags: Als er bemerkte, dass im Ladebildschirm von Mechabellum vor und nach einer Partie einige Sekunden lang sehr prominent die Nutzerbilder und Namen aller SpielerInnen einer Runde angezeigt werden, sah er die Gelegenheit für einen Scherz. Er wollte, dass dort im Ladebildschirm ein alter Mann zu sehen ist, der überragend gut Mechabellum spielt und alle abzieht. Lasse fand diese Vorstellung witzig.

In der Nacht vom 01. auf den 02. April 2023 benannte er sein Steam-Profil in einen denkbar altmodisch klingenden Namen um („Jürgen“) und änderte sein User-Bild. Dafür gab er den neuen Alias-Namen einfach nur in die Google-Bildersuche ein und wählte das erstbeste Bild, das ihm passte – liebe Grüße an Jürgen Rißmann.

Aber der Gag nahm eine überraschende Wendung: Nach der ersten Partie als „Jürgen“ bedankte sich Lasse mit der üblichen Floskel „gg wp“ (etwa: „Gutes Spiel“) im Chat bei seinen Gegnern. Statt aber nur den drei TeilnehmerInnen seiner eigenen Runde zu schreiben, schickte er die Nachricht im öffentlichen Global Chat ab, wo nun für  tausende SpielerInnen sichtbar stand:

Jürgen: GG WP.

Damit war der Running Gag geboren. Offenbar teilten sehr viele Menschen Lasses Humor und wiederholten den Satz, antworteten „Jürgen“ und schrieben die ersten Nonsense-Antworten. Das ist mittlerweile über einen Monat her – und nach wie vor ist der Jürgen-Hype-Train nicht zu stoppen.

Für Lasse ist all das eine schöne Erfahrung: Er erzählt mir, dass er die Aufmerksamkeit und Freundlichkeit genießt. Er mag, dass ihn sofort Leute ansprechen, wenn er als „Jürgen“ online erscheint. Trotzdem will er in unserem Interview nicht zu viel über sich preisgeben oder mir die Erlaubnis geben, ein Bild von ihm zu zeigen. Er wolle eines Tages selbst einmal streamen und befürchte, dass er dann nur als „Jürgen“ abgestempelt werde, erklärt er mir. 

Von dieser Vorsichtsmaßnahme abgesehen aber ist Lasse zufrieden mit dem Mysterium, das er begründet hat – und ich bin happy, diese Geschichte gehört zu haben.

Aber das „Jürgen“-Kapitel ist damit noch nicht zu Ende.

Das Entwicklerteam schaltet sich ein

Denn es gab auch SpielerInnen, die sich von dem Jürgen-Spam schnell genervt fühlten. Viele von ihnen meldeten Lasses Account daraufhin – und das hatte schnell Konsequenzen: „Jürgen“ wurde in nur einem Monat bisher zwei Mal für je 25 Stunden gesperrt. Und das, obwohl sich Lasse nicht gegen die Nutzungsbestimmungen des Spiels gewendet hatte.

Durch diesen Vorfall wurde eine eklatante Schwäche im Spielsystem von Mechabellum plötzlich offensichtlich: Die Melde-Funktion war viel zu rudimentär. SpielerInnen, die genervt von „Jürgen“ waren, hatten gar keine andere Möglichkeit, als den Account zu melden, da es noch bis vor einen Monat weder Funktionen für Stummschaltungen noch Blockierungen gab.

Nachdem sich Lasse dann auf die zweite Auszeitstrafe hin beim Entwicklerteam Paradox Arc meldete und den Fall erklärte, erkannten sie die gravierenden Mängel ihres Melde-Systems und fügten die dringend benötigten Stummschalt- und Blockier-Funktionen hinzu. Außerdem arbeite man weiterhin am Melde-System, wie das Team Lasse zusicherte, um ihn und auch andere „bekannte Persönlichkeiten“ wie StreamerInnen und InfluencerInnen in Zukunft vor grundlosen Auszeitstrafen zu schützen.

Damit nahm das „Jürgen“-Phänomen also eine zweite, große Wendung und trug entscheidend dazu bei, dass die Online-Community von Mechabellum nun um dringend benötigte Werkzeuge reicher ist, um eine Spielerfahung zu schaffen, die für alle so angenehm wie möglich ist. Oder anders gesagt:

Jürgen hat geregelt.


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