Fünf Jahre Arbeit für ein Rollenspiel: Auf den Spuren des „Death Trash“-Machers

Mitte Februar 2020 besuchte ich Stephan Hövelbrinks im Saftladen Berlin, ein Coworking Space für ein halbes Dutzend Indie-Entwicklerteams. Damals war Corona noch weit weg, Masken im Nahverkehr kurios und OK COOL ein kleiner Blog über EntwicklerInnen und ihre Anekdoten, den kaum jemand kannte. Und trotzdem hatte Stephan meiner Frage nach einem Interview zugestimmt, das ihn rund eine Stunde Zeit und mich unendlich viele Schweißtropfen kosten würde.

Denn ich war aufgeregt, oh, wie war ich aufgeregt: Ich durfte tatsächlich den Entwickler ausfragen, der seit Jahren ganz alleine an Death Trash arbeitet, ein Postapokalypse-Rollenspiel mit derbem Humor, bizarren Kreaturen und fantastischen Artworks. Nur wir beide, vielleicht noch zwei Kaffeetassen dazwischen, ganz ungestört.

Death Trash ist modern und gleichzeitig traditionell: Kantiger Humor, moderne Geschlechterbilder und ungewöhnliches Monsterdesign trifft auf klassische RPG-Mechaniken.

Und ich hatte viele Fragen: Wie stemmt man so ein gigantisches Projekt? Wie geht man mit der Erwartungshaltung einer Community um, die sich lange vor Release schon etliche Features ausmalt oder – noch schlimmer – fest auf sie besteht? Überarbeitet man sich da nicht hoffnungslos? Und worum soll es im Spiel eigentlich gehen, von viel Kotze und Kopfschüssen und vielleicht auch etwas Gesellschaftskritik abgesehen?

Rund eine Stunde, viele Fragen und noch mehr Antworten später verabschiedeten wir uns voneinander. Mein Notizzettel war voll, die aufgezeichnete Tonspur unseres Gesprächs lag auf dem Heimweg wie ein schwerer Goldschatz in meiner Tasche. 

Und dann kam März. April. Mai. Juni. Juli. August. September. Und jetzt Oktober. Eine Pandemie rollte über unsere Köpfe hinweg und begrub auch mein Leben unter einem erdrückenden Durcheinander aus gestrichenen Aufträgen, ausbleibenden Honoraren, fernbleibenden Freunden und viele, so viele Videokonferenzen, ohje. Mein Text über Stephan Hövelbrinks und Death Trash musste Mahnungen, unzähligen Pitch-Mails und dem sonstigen Überlebenskampf weichen, den so viele andere Selbstständige mit mir teilten.

Acht Monate nach unserem Gespräch kann ich nun endlich diesen Artikel beenden. Death Trash soll, wenn alles klappt, noch dieses Jahr erscheinen, einige Streamer dürfen bereits Hand anlegen und das Spiel zeigen. Bald werden sicher auch die ersten Tests und Previews ganz konkret erklären, worauf man sich bei diesem eigenwilligen Rollenspiel einstellen muss. 

Ich will diesen Texten überlassen, über Death Trash zu sprechen, sobald es wirklich erschienen ist. Ich hingegen will euch den Menschen vorstellen, der seit fünf Jahren ganz alleine ein riesiges Rollenspiel programmiert und der davor ein wendungsreiches Leben führte. Es ist eine Reise in die Vergangenheit von Stephan Hövelbrinks, die mich monatelang im Hinterkopf begleitete – und zu der ich auch euch nun endlich einladen kann.

Ein Weg ohne Ziel

Ziellosigkeit, Antriebslosigkeit, Durcheinander. Diese Worte fallen immer wieder, während Stephan Hövelbrinks von seinen Tagen als junger Erwachsener erzählt. 

Seine Geschichte beginnt in Borken, eine Kleinstadt in Westfalen. Wie so viele andere Jugendliche hegte auch Stephan bereits damals eine große Faszination für Computerspiele – allerdings nicht nur als Hobby, sondern auch als Berufswunsch: „Ich habe Abitur gemacht, ohne zu wissen, was ich mit dem Abschluss eigentlich anfangen will. Eigentlich wollte ich wirklich gerne Spiele entwickeln, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich dahin kommen würde oder was es da für Möglichkeiten gab.“

Spielemagazine nähren jahrelang den Wunsch des jungen Hövelbrinks, in diese Branche einzusteigen. Bis heute kann er sich gut daran erinnern, dass er damals in einer dieser Zeitschriften einen Artikel über Gothic 1 entdeckte und überlegte, ob er nicht einfach die Entwickler per Post nach einem Praktikumsplatz fragen könnte: „Das habe ich dann aber doch nie gemacht, schade eigentlich. Die hätten mir wohl eine Absage geschickt, aber mir eben vielleicht auch einen Tipp gegeben, wo und wie ich Spieleentwickler werden könnte.“

Nach dem Abitur folgt eine Sackgasse, die erste von vielen. Keine Richtung, kein Antrieb, kein Plan. „Ich habe einfach nichts gemacht, keine Ausbildung, gar nichts, sondern einfach nur die Zeit vertrieben. Dann wurde ich zum Zivildienst zwangsverpflichtet.“ Erneut fehlt der Antrieb, dieses Mal, um sich eine Dienststelle für den Zivildienst auszusuchen. Also schickt man ihn ins Altersheim – in Glücksfall für Hövelbrinks: „Mir gefiel das ganz gut. Ich hatte keine Berührungsängste mit diesen Menschen. Und nach 13 Monaten habe ich freiwillig noch ein Jahr dort weitergearbeitet.“

Spielezeitschriften, wie hier eine Ausgabe der PC Player (mit Test von Gothic 1), beflügeln Hövelbrinks Fantasie und Faszination für Videospiele.

Trotz aller Freude bei der Arbeit spürte Hövelbrinks, dass ihn die Pflege im Altersheim vor allem psychisch zunehmend belastete. Erneut kroch in ihm das Gefühl hoch, in einer Sackgasse gelandet zu sein: „Es war deprimierend mit anzusehen, wie da regelmäßig neue Leute ankamen und dann bald danach starben. Es fühlte sich an wie eine Endstation. Es ist großartig, dass es diese Orte gibt, aber das als junger Mensch ständig zu sehen, das war schwer.“ Also kündigte er seinen Job und war erneut arbeitslos. Dieses Mal allerdings fällt Hövelbrinks nicht wieder in das alte Muster zurück, seine Zeit ziellos zu vertreiben. Stattdessen spannt ihn sein Vater in der familieneigenen Druckerei ein – eine Arbeit, die der junge Mann bereits von vielen Aushilfsstunden als Teenager gut kannte. Kurz darauf arbeitete er dort Vollzeit.

Als Stephan Hövelbrinks die Druckerei zu seinem neuen Arbeitsplatz macht, befindet sich diese traditionsreiche Branche bereits im Niedergang. Während sein Vater noch lernte, mit Setzkästen zu hantieren und Druckplatten herzustellen, die dann Plakate, Poster oder Bücher pressten, begann die Computertechnologie in den 1990-er klassische Druckereien zu verdrängen. Der einst lukrative und unverzichtbare Betrieb von Hövelbrinks Vater wandelte sich allmählich zum Copyshop, der ums Überleben kämpfte: „Das alles mitzuerleben hat mich damals sehr traurig gemacht. Das war im Grunde nach dem Altersheim die zweite Endstation in meinem Leben.“

Um dem drohenden Bankrott zu entgehen versucht der Familienbetrieb mit der Zeit zu gehen: Eine Kaffeemaschine und ein digitaler Drucker sollen alte Kunden erhalten und neue Kunden anlocken. Stephan Hövelbrinks bringt sich Webdesign bei, um außerdem seine Dienste als Webseitenersteller anbieten zu können. Doch es hilft nichts: Vater und Sohn drohen sich kaputt zu arbeiten. Sie stecken viel Zeit und Energie in die Druckerei, trotzdem werden die Kunden immer weniger.

Schließlich gibt Stephan auf: „Ich war so frustriert, ich schmiss das Handtuch und sagte meinem Vater, dass ich was anderes machen will. Dann bin ich mit meiner Frau nach Berlin gezogen, das muss so 2013 gewesen sein. Ich nahm mir fest vor: Ich mache jetzt Computerspiele. Irgendwie.“

Die Welten vor Death Trash

Den Wunsch, Videospiele zu machen, hatte Stephan Hövelbrinks schon als Teenager. Aber seine Arbeit im Altersheim und danach der Kampf um die Zukunft der Druckerei raubten ihm die Kraft und den Elan, dieses Ziel in seiner Freizeit zu verfolgen. Bevor er nach Berlin zog, arbeitete er für gewöhnlich tagsüber mit seinem Vater im Betrieb und verbrachte den Feierabend entweder auf den Servern von World of Warcraft oder in endlosen Threads dutzender Technikforen.

Dann, eines Abends im Herbst 2010, machte es plötzlich Klick im Kopf des jungen Hövelbrinks: „Ich dachte mir auf einmal: ‚Das kann es doch nicht sein. Du kannst doch hier nicht versacken. Du wolltest schon immer Spiele machen, das hat dir doch so Spaß gemacht. Warum hast du das alles fallengelassen?‘ Also habe ich mir irgendein Programm runtergeladen und mir vorgenommen, meine eigenen Spiele zu machen.“

Dabei musste Hövelbrinks nicht komplett bei Null anfangen: 2010 hatte er bereits damit experimentiert, eine eigene 3D-Engine mit Hilfe der Programmiersprache C++ zu erstellen. Hier setzte er an und bastelte in den nächsten zwei Jahren fast jeden Abend an einer eigenen Engine – dem technischen Grundgerüst für die Spiele, die er danach machen wollte. „Nach etwa zwei Jahren habe ich dann mal Flash ausprobiert und gemerkt: Huch, ich kann hier innerhalb weniger Tage mit wenigen Code-Zeilen ein Spiel machen und direkt im Internet teilen. Das war für mich ein Augenöffner. Ich merkte: So geht’s ja auch!“

Eines von Hövelbrinks früheren Spielen ist das Point’n’Click-Adventure „Der Bunker“ (2013), in dem ein russischer Soldat 1945 über Berlin abstürzt, den Führerbunker betritt und dann Hitler umbringt.  

Mit seinem Umzug nach Berlin 2013 beginnt auch eine kreative Hochphase für Hövelbrinks: Mit dem Flash-Grundgerüst programmiert er zahlreiche Prototypen, einige davon sind noch heute spielbar. Nach dieser Experimentierphase wechselt Hövelbrinks auf Unity, eine umfangreiche und zugleich recht zugängliche Engine, der er bis heute treu geblieben ist. Sie wird die Grundlage bilden für ein Experiment, das sich als wegweisend herausstellen sollte.

Vom Tweet zur Spielidee

„Als ich nach Berlin kam, hatte ich ein Ziel: Ich wollte ganz viele Spiele für mein Portfolio machen, um damit dann bei einer Firma reinzukommen. Geld verdienen wollte ich mit diesen Prototypen nicht, musste ich auch nicht: Ich hatte 18.000 Euro gespart, das reichte für eine Weile, ich konnte mich ganz auf meine Experimente konzentrieren.“ Diesen Schaffensprozess begleitete Hövelbrinks mit Artworks zu ausgedachten Spielkonzepten: Jeden Tag ein neues Bild. „Das war super, um mal ein bisschen was auszuprobieren und einen visuellen Stil und Ton zu finden.“ 

Begeistert stürzte er sich in dieser Zeit auch in den Ludum Dare, ein internationaler Gamejam, der alle TeilnehmerInnen dazu herausforderte, innerhalb von 48 Stunden ein Spiel fertigzustellen – mit anschließender Bewertung durch die Community. „Da kamen ein paar coole Sachen heraus, aber vor allem bekam ich da endlich mal Feedback. Bis dahin veröffentlichte ich meine Spiele immer im Netz, ohne viel Rückmeldung zu bekommen. Oder es spielte ganz einfach niemand meinen Kram. Beim Ludum Dare hingegen habe ich zum ersten Mal klare Ansagen bekommen, was mir gut gelungen ist und was weniger gut.“

Fäkalhumor spielt in der Welt von Death Trash durchaus eine Rolle – und ist auch in Hövelbrinks früheren Spielen bereits angelegt, wie hier in „Hold Space to Fart“ (2015)

Inspiriert von diesem Gamejam und seinen täglichen Artworks entschloss sich Hövelbrinks schließlich zu einem extremen Selbstversuch: Er wollte 12 Wochen lang jeden Sonntag ein neues Spiel veröffentlichen, um sich selbst herauszufordern aber auch um zu lernen, Projekte tatsächlich abzuschließen. „Das war wirklich hart. Ich fing Montags mit einem neuen Spiel an, arbeitete dann jeden Tag und veröffentlichte es schließlich am Sonntagabend, egal, in welchem Zustand es sich befand. Das kann man nicht lange durchhalten, aber es war sehr gut, um zu lernen und mich auch mit Unity immer weiter vertraut zu machen.“ In dieser Zeit übte und lernte Hövelbrinks all die Dinge, die er später auch für Death Trash benötigen würde.

Hier taucht der Name „Death Trash“ also wieder auf, nach vielen Absätzen, die wir mit Stephan im Altersheim, in der Druckerei und auf dem Umzug nach Berlin verbracht haben. Wie also passt Death Trash nun in die Biographie des Entwicklers? Und vor allem: Wohin?

„Death Trash war ursprünglich eines dieser täglichen Artworks, an denen ich nach meinem Umzug gearbeitet habe. Ich wurde zu einem Bild inspiriert, als Gerüchte aufkamen, dass Fallout 4 angekündigt werden soll. Fallout gehört zu meinen liebsten Franchises und da dachte ich mir: Ich kann doch mal dazu was malen.“

Und genau das tat Stephan Hövelbrinks und veröffentlichte sein Artwork für sein fiktives Spiel im Fallout-Stil am 2. Juni 2015 auf Twitter.

„Das war Fanart und das sage ich ungern, weil heute einige Leute dann vielleicht sagen, dass ich einfach nur Fallout nachmache. Dabei war das ja nur der erste Schritt. Man sieht in dem Artwork natürlich die DNA, die Perspektive, das Setting – aber ab Tag 2 war das mein eigenes Ding, an dessen Persönlichkeit ich Tag und für Tag feilte. Als ich das Artwork fertig hatte, wusste ich: Das ist es jetzt. Das will ich machen.“

Das, was später Death Trash heißen sollte, nahm hier also seinen Anfang. Auch der Name für das Spiel wurde bald gefunden: Mit seiner Frau setzte sich Hövelbrinks in eine Berliner Kneipe und gemeinsam tauschte das Duo Namensvorschläge aus, während der Alkohol floß. Wohl seine Frau hatte dann die Idee für Death Trash, die sofort beide begeisterte – an die übrigen Namen oder ob nicht er selbst zuerst die Namensidee hatte, daran kann sich Hövelbrinks allerdings nicht mehr erinnern. Dafür war der Abend zu lang.

Crunch, Crunch, Crunch

Zurück in die Gegenwart.

Fünf Jahre lang arbeitet Stephan Hövelbrinks nun schon an Death Trash. Er ist sein eigener Chef, bestimmt selbst Arbeitszeiten, Pausen, Urlaubstage. Trotz besserem Wissen erlag Stephan allerdings einige Zeit lang der Versuchung, jede freie Minute in sein neues Projekt zu stecken – und überarbeitete sich dabei hoffnungslos: „Die letzten ein, zwei Jahre war es zu viel. Diese Grundmotivation hat mich einige Zeit lang getragen, ich war sehr glücklich darüber, jetzt endlich eine Arbeit gefunden zu haben, die mich ganz erfüllte. Ich habe täglich an Death Trash gearbeitet.“

Aber auch durch äußere Zwänge sah sich der Entwickler lange Zeit dazu gezwungen, seine Gesundheit zu missachten und pausenlos die Arbeit an seinem Spiel voranzutreiben. Sieben Tage die Woche, von früh bis abends. „Ich bin ja mit 18.000 Euro Reserven gestartet und irgendwann war das leer. Dann hat mich meine Frau unterstützt, Miete gezahlt und meine Familie ist auch etwas eingesprungen. Bis das Medienboard Brandenburg-Berlin die Finanzierung übernahm, war das ein großer Druck für mich. Ich konnte nicht faul sein, ich musste fertig werden. Auch die Erwartungshaltung auf Twitter und in einigen Foren wurde immer größer.“

Mittlerweile hat er die Kurve gekriegt. Seit knapp zwei Jahren zwingt sich Stephan dazu, seine Arbeitszeiten zu normalisieren und auf sich selbst besser zu achten. Heute arbeitet er zwar noch immer sechs Tage pro Woche, steht jeden Morgen um sechs Uhr auf, hält aber dafür auch den klassischen Acht-Stunden-Arbeitstag ein. „In der Branche heißt es ja, nur wer Zeit reinsteckt, der bringt es auch zu etwas. Aber ich sage mir dann immer wieder selbst: Nein, das ist okay, sei vernünftig. Das schlechte Gewissen bleibt trotzdem hin und wieder.“

Death Trash ist das erste große, kommerzielle Spiel von Stephan Hövelbrinks, markiert aber gleichzeitig auch das Ende einer langen Reise. Leicht war der Weg für den jungen Entwickler nicht, schnörkellos erst recht nicht. Aber jetzt, im Jahr 2020, scheint Hövelbrinks dort angekommen zu sein, wohin er sich schon als Teenager gewünscht hatte: Am Schreibtisch, an dem sein Spiel entsteht. 

Dieser Beitrag wurde von den Steady-Supportern ermöglicht, die OK COOL mit ihrer Unterstützung maßgeblich dabei helfen, diese und viele andere Recherchen, Texte und Podcasts zu produzieren. Danke!

Veröffentlicht in