In der Quarantäne: Einsam unter Wasser

Ein Gastbeitrag von René Wiesenthal

Allein sind wir oft aus freien Stücken. Wenn wir gestresst sind, wenn wir uns konzentrieren müssen, wenn wir nachdenken wollen. Dann entfernen wir uns räumlich von anderen Personen — aber nicht unbedingt zwischenmenschlich. Wir haben ein Rettungsseil dabei, damit wir nicht abstürzen.

Einsam sind wir hingegen, wenn wir uns nicht mehr angeschlossen fühlen, egal, wie viele Menschen um uns herum sind. Wenn wir den Eindruck haben, wir hätten die Bindung zur Gesellschaft verloren, wir seien anonym anwesend, emotional abgeschieden, keiner denke an uns. 

Und manchmal führt das Alleinsein auf direktem Weg zur Einsamkeit.

In Zeiten der fortschreitenden Ausbreitung des Coronavirus‘ ist das Alleinsein nicht immer selbst gewählt. Wir sollen das Haus oder die Wohnung nur noch für die wichtigsten Erledigungen verlassen, dürfen uns draußen nicht mehr in Gruppen aufhalten. Viele verrichten ihre Arbeit von daheim aus, manche haben weder Arbeit noch ein Zuhause. Viele Menschen befinden sich plötzlich an der Schwelle zur Einsamkeit, oder sind bereits diesen einen Schritt zu weit gegangen.

Ich finde mich derzeit in einer recht komfortablen Position wieder. Eigentlich. Ich muss nicht in einem Krankenhaus sein und um das Überleben von Menschen kämpfen. Ich arbeite als Redakteur, kann weiterhin genau das tun, was ich in den letzten Jahren in einem Büro getan habe, um über die Runden zu kommen — nur, dass ich jetzt an einem Schreibtisch in meiner Wohnung sitze. Ich bin privilegiert. Und wie viele andere bin ich die meiste Zeit allein. 

Eigentlich ist das kein großes Problem für mich.

In meiner Wohnung bin ich von einem umfangreichen Unterhaltungsprogramm umgeben: Von Streaming-Diensten, einem Plattenspieler, Büchern, meinem Smartphone, Videospielen. Vielen, vielen Videospielen. Wenn nicht alles so schrecklich und unabsehbar wäre, hätte ich mich zu Anfang der Quarantäne der Illusion hingeben können, ich machte hier Urlaub. In einem Hotel, das ich mir nach meinen eigenen Vorlieben eingerichtet habe.

Die ersten Stunden: Mit den Zehen im Wasser

Ich begann die ersten Tage dieser Pandemie, in denen ich noch aus eigener Entscheidung zu Hause blieb, intensiv Subnautica zu spielen. Verschiedene Menschen aus meinem Umfeld hatten es mir empfohlen.

Die Essenz des Spiels ist denkbar einfach: Ihr steuert einen Astronauten, dessen Raumschiff auf einem fremden Planeten abgestürzt ist. Wie andere Besatzungsmitglieder, konntet ihr mithilfe einer Rettungskapsel dem Tod entkommen – ein Großteil der Crew aber offensichtlich nicht. Eure Situation hat einen weiteren Haken: Der Planet, auf dem ihr gelandet seid, scheint nichts als ein riesengroßer Ozean zu sein, in dem es von außerirdischen Lebewesen nur so wimmelt.

Mit den wenigen Mitteln, die euch in der Rettungskapsel zur Verfügung stehen, geht ihr also ganz allein auf Tauchgang, sucht nach Überlebenden und versucht vor allem, selbst zu überleben. Die fantasievolle aber irgendwie doch realistisch anmutende Flora und Fauna der Unterwasserwelt, die reiche Klangkulisse und das Gefühl der Gegenständlichkeit des Wassers um mich herum zogen mich sofort an. 

Das Spiel schrieb mir nichts vor, gab mir nur unaufdringliche Hinweise. Wenn ich wollte, konnte ich Fortschritte im Spiel machen, ohne mich dabei einem endgültigen Ziel zu nähern. Denn wie es in einem Survival-Spiel üblich ist, gab es von Anfang an viel zu tun: Ich nutzte gefundene Werkstoffe dazu, um meine Ausrüstung und Unterkunft immer leistungsfähiger zu machen. Und mit dazugewonnenen Mitteln erschlossen sich mir in Subnautica auch Möglichkeiten, weiter in den Ozean unter mir abzutauchen, neue Biome zu entdecken, in die endlos scheinenden und dunkler werdenden Tiefen des Meeres vorzudringen. 

Unter steigendem Wasserdruck wurde der Sauerstoff bei jedem Tauchgang knapper, das Sonnenlicht erstickte ab einer gewissen Tiefe auch mitten am Tag, das Dröhnen riesiger Raubfische kam näher. Momente, in denen ich zusammen mit meinem virtuellen Stellvertreter die Luft anhalten musste. Doch es führte kein Weg daran vorbei, sonst kam ich nicht an das im Dunkel verborgene Edelsteindepot, das ich abbauen musste, um die nächstbeste Ausrüstung herzustellen.

Ich begann, Parallelen zu meiner realen Situation zu erkennen: In Subnautica war ich, wie auch in meiner Wohnung, aufgeschmissen, wenn ich mir keine eigenen Ziele setzte und Routinen schaffte. Niemand gab mir hier eine konkrete Richtung vor. Ich musste haushalten, mich Herausforderungen stellen, die ich mir selbst auferlegt hatte. Und eine dieser Herausforderungen fand ich in dem beherrschenden Element dieser virtuellen Welt: der nahezu grenzenlose Ozean.

In vielen anderen Spielen dient Wasser als Blockade, als Begrenzung der Spielwelt, oder zumindest als Hindernis, das es zu überwinden gilt. In Subnautica beginnt mein Abenteuer erst dann, wenn ich ins Wasser gehe. Der Ozean ist mein Bezugspunkt, ein Hort des Lebens, aber auch ein Ort voller Gefahren. Und so wurden diese Untiefen nicht nur mein Abenteuerspielplatz, sondern auch eine Bewältigungsübung: In der „echten Welt“ bekomme ich bereits Angst, wenn ich mir nur vorstelle, in die Tiefen der Meere vorzudringen — eine unheimlich Parallelwelt, in der ich, als Mensch, nicht dazu fähig bin, zu überleben. In der mich das Unbekannte umgibt. 

So stellte ich mich in Subnautica immer wieder auch meiner eigenen Angst, wenn ich nur mit einer Lampe ausgestattet in mal bedrohlich brummende, mal unbehaglich stille Gräben abtauchte. 200, 300, dann 400 Meter unter dem Meeresspiegel. Ich entwickelte eine Faszination dafür, mich allein diesen Kampf gegen meine Angst auszusetzen. Und dabei kleine Erfolge über mich selbst zu feiern.

Und ich drohte, zu versinken

Je länger aber das tatsächliche Alleinsein in der realen Welt andauerte, desto eindringlicher wurde für mich das Alleinsein im Spiel. Und die Angst. Das Hotel-Feeling wich mit der Zeit dem Bewusstsein, dass die Quarantäne eben kein Urlaub ist, sondern eine schwierige Aufgabe. Die Welt von Subnautica konnte zwar zum Teil ein Modell dessen sein, auf was ich jetzt im realen Leben zu achten hatte: Gib jedem Tag einen Zweck. Gehe effizient mit dem um, was du hast, beschäftige dich und nutze die Zeit sinnvoll. Überwinde dich! Doch es zeigte mir auch auf, dass ich permanent der Gefahr ausgesetzt war, in die Einsamkeit abzudriften. Wer in Subnautica keine Aufgaben findet, der treibt im wahrsten Sinne vor sich hin. 

Videospiele haben für mich gerade jetzt an Bedeutung gewonnen, weil sie mir so oft helfen beim Alleinsein. Besonders, wenn ich online mit Freunden spiele. Dann kann ich den Spaß mit ihnen teilen, und mich gleichzeitig über alles austauschen, das wir sonst am Telefon besprechen würden. Aber auch Singleplayer-Spiele helfen mir, an Tagen wohlauf zu bleiben, an denen ich mir das Alleinsein weniger gut mit nützlichen Gedanken erträglich machen kann. Dann schaffen sie es manchmal, meine Aufmerksamkeit auf etwas Erfreuliches zu lenken. Wie dem Fund einer seltenen Ressource, die ich brauche, um mein virtuelles Unterwasserdomizil zu verschönern. 

Aber Eskapismus hat eine Kehrseite, die mir Subnautica nach einiger Zeit wieder in Erinnerung gerufen hat. Wenn es mir nicht gut geht, kann ich mich nicht nur der Ablenkung hingeben und darauf warten, dass die realen Probleme vorbeiziehen. Denn ein Unterhaltungsmedium, das so viel mit meinen Gedanken und Gefühlen anstellt, kann mich nicht nur glücklich machen, mir vielleicht sogar dabei helfen, mich meinen Ängsten zu stellen. Es kann mich stattdessen auch in Untiefen ziehen, die mich taub für mein eigenes Leben machen. Allein, in einer unsicheren Umwelt, mit wenig Kontrolle auf die äußeren Umstände ist das gefährlich für mich. Dann ist es Zeit, aufzutauchen.

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