Vor über 30 Jahren sprang eine Spielfigur mit grünem T-Shirt über Baumstümpfe und bewies, dass digitale Hindernisläufe unheimlich Spaß machen können. Damit begründete Pitfall! 1982 auf dem Atari 2600 das Jump’n’Run-Genre und inspirierte in den folgenden Dekaden tausende EntwicklerInnen, diese simple Formel zu raffinieren: Donkey Kong verband den Hindernislauf mit einer dramatischen Rettungsgeschichte, Commander Keen wuchtete das Konzept von den Heimkonsolen auf den PC, Super Mario 64 führte das Genre in die Dreidimensionalität — inklusive frei wählbarer Kameraperspektive.
Zeitsprung ins Jahr 2015: Der Südafrikaner Ben Myres lernt im letzten Jahr seines Game Design-Studiums Cukia „Sugar“ Kimani kennen. Die beiden freunden sich an und bald beschließt das Duo, gemeinsam ein Spiel zu entwickeln. Es soll ein Jump’n’Run werden, doch statt dass die Spielfigur Hindernisse überspringen muss, verändert sie ihre Gestalt, um Fallen und Hürden zu umgehen.
Was eigentlich als Nebenbei-Projekt unter dem Namen Squeeze Me begann, wurde plötzlich ernst, als ein ehemaliger Entwickler von Naughty Dog die Universität der beiden besuchte. Er sah den Prototypen von Ben und Cukia — und war begeistert. Der erfahrene Entwickler empfahl dem Duo, Squeeze Me fertigzustellen und als kommerzielles Produkt zu verkaufen.
Ermutigt von diesem Zuspruch arbeiteten Ben und Cukia weiter an Squeeze Me, bis sie nach einem Jahr plötzlich auf einen verhängnisvollen Programmierfehler stießen. Ben erinnert sich im Interview mit OK COOL noch gut an diesen Zeit, die so wichtig für die Zukunft von Squeeze Me werden würde: „Wir entdeckten Glitch, der die Levelarchitektur, im Grunde das gesamt Terrain der Spielwelt veränderte. Bis zu diesem Zeitpunkt sollte das Spiel eigentlich nicht mehr werden, als ein hübsches Projekt für unser Portfolio oder ein kleines Gratis-Ding auf itch.io.“
Aber der Glitch inspirierte das Entwicklerduo dazu, ihr Spielkonzept umzudenken und nicht mehr die Gestalt ihrer Spielfigur sondern die Spielwelt selbst als veränderliche Variable zu konzipieren. Diese Idee öffnete die Türen für eine Vielzahl neuer Rätsel und Spielmechaniken, die alles andere als typisch für das klassische Jump’n’Run-Genre waren. Der Richtungswechsel im Design verlangte nach einem neuen Namen für das Projekt: Aus Squeeze Me wurde Semblance und der neue Prototyp erregte bald die Aufmerksamkeit des niederländischen Publishers Good Shepherd Entertainment.
Einige Jahre und geschüttelte Hände später sind wir in der Gegenwart angekommen, in der Semblance nicht nur auf Steam, sondern auch für die Nintendo Switch erschienen ist — als erstes Videospiel aus Afrika überhaupt. Die Reviews und Spielerstimmen sind überwiegend positiv, gelobt wird das innovative Konzept der Levelverformung und der hübsche Art Style. Semblance wird für seine beiden Entwickler zum kommerziellen Erfolg. „Was für eine wilde Fahrt“, schmunzelt Ben.
Die Geschichte von Ben und Cukia ist auch deswegen so bemerkenswert, weil sie sich in Afrika abgespielt hat — ein Kontinent, in dem die Arbeitsbedingungen für SpieleentwicklerInnen alles andere als ideal sind, wie Ben im Interview mit OK COOL ausführt. Mit seinem Heimatland habe er da noch Glück gehabt: „Südafrika ist wohl der Spitzenreiter unter den afrikanischen Ländern, was die Qualität der Infrastruktur angeht, hier ist es also nicht ganz so schlimm, wie überall sonst. Aber auch wir haben immer wieder mit überraschenden oder sogar geplanten Stromausfällen zu kämpfen. Und die passieren natürlich immer zu den schlechtmöglichsten Zeitpunkten.“
Doch auch die Internetgeschwindigkeit ist ein Problem: Das Entwicklerduo benötigte durchschnittlich rund eine Stunde, um den 500MB großen Prototyp ihres Spiels hochzuladen — eine Glücksspiel mit den Stromleitungen, das für jede Anmeldung an einem Indie-Festival oder Spielemesse wiederholt werden musste. Mittlerweile hat sich Nyamakop, das Entwicklerstudio von Ben und Cukia, mit anderen Büros und Geschäften zu einem Notfallnetzwerk zusammengeschlossen. Kommt es lokal zu einem Stromausfall, klappern die Beiden die Nachbarschaft auf der Suche nach funktionierenden Leitungen ab.
Abseits der Infrastruktur gibt es noch weitere Herausforderungen, denen sich angehende SpieleentwicklerInnen in Afrika stellen müssen, wie Ben erklärt: „Die Spielebranche in Südafrika beginnt sich gerade erst zu entwickeln. Deswegen ist es auch so schwierig, eine Finanzierung oder die Unterstützung eines Publishers klarzumachen. Außerdem verkaufen sich zumindest in Südafrika Spiele unheimlich schlecht, die selbst in Afrika entwickelt wurden. Also versuchen EntwicklerInnen, den westlichen Spielemarkt zu erreichen. Aber das bedeutet unweigerlich auch, viel reisen zu müssen, um an großen Events im Westen teilzunehmen und andere Entwickler oder die Presse kennenzulernen. Und das ist ein verdammt teures Unterfangen für ein frisch gegründetes Team.“

Im Interview mit OK COOL wählt Ben eine riesige Steilwand als Metapher für den aktuellen Status Quo der Spieleentwicklung in Afrika: Dass der Download einer Engine oder eines Updates Stunden dauern kann und der lokale Spielemarkt kaum Interesse an landeseigenen Veröffentlichungen hat, erschwert die Arbeit der jungen EntwicklerInnen ganz offensichtlich. Doch wenn diese Steilwand erst einmal überwunden ist, dann bietet die Arbeit in der Gamesbranche speziell in Afrika auch Vorteile, wie Ben beschreibt: „Die Lebenshaltungskosten hier sind recht niedrig, sodass die Budgets für die eigene Arbeit auch nicht sonderlich hoch angesetzt sein müssen. Das bedeutet, dass man länger und mit mehr Leuten an einem Projekt arbeiten kann, ohne dass jemand an Lebensqualität einbüßen muss.“
Dieser Vorteil gelte aber wiederum nicht für alle Länder des Kontinents: Besonders in Krisenregionen seien die Kosten für die Beschaffung von Internet und technischem Equipment wiederum so teuer, dass die Spieleentwicklung für angehende EntwicklerInnen nahezu unmöglich sei. Ben, Cukia und ihrem Studio Nyamakop ist dieses kleine, große Kunststück allerdings gelungen — und nun gehören sie zu den bekanntesten Entwicklern Afrikas.
Und was bringt die Zukunft? Darüber machen sich die Senkrechtstarter von Südafrika aktuell viele Gedanken. Fest steht für das Duo jetzt schon: Sie wollen die Entwicklerszene ihres Heimatlandes stärken und Johannesburg zu einem Zentrum der noch jungen afrikanischen Spielebranche machen. Im Interview mit OK COOl verrät Ben Details: „Wir wollen regelmäßige Community Events und ein Mentorenprogramm für Studierende organisieren. Außerdem wollen wir unsere Kontakte (in die internationale Spielebranche) weitergeben, wann immer es Sinn macht.“

Afrika würde von einem starken Gaming-Netzwerk, das sich auch nach außen hin präsentieren und auf sich aufmerksam machen kann, stark profitieren. Denn trotz der infrastrukturellen Herausforderungen entstehen seit Jahren überall auf dem Kontinent originelle Videospiele, die mal mehr und mal weniger das kulturelle Erbe Afrikas in ihr Design einfließen lassen — aber kaum außerhalb der Ländergrenzen wahrgenommen werden.
Dabei legen Titel wie Aurion (Kamerun), Rangi (Marokko), Shakara (Nigeria), After Robot (Südafrika) oder Organisationen wie Nibcard Games (Nigeria) und Leti Arts (Ghana) ein eindrucksvolles Zeugnis über die Spielebranche eines Kontinents ab, der trotz seiner strukturellen Hürden viele neue kreative Stimmen und Talente heranzieht. „Hier passieren so viele tolle Sachen“ sagt Ben am Ende des Interviews mit OK COOL — wohlwissend, dass Afrika am Anfang einer aufregenden Reise steht, die wir auf keinen Fall verpassen sollten.